(K)ein gemütlicher Fernsehabend

„Diese Doku über Tiere bei Nacht?“, fragt mein Mann.
„Ne, lass uns die hier nehmen. Geht um irgendwas mit der Nahrungsmittelindustrie“, schlage ich vor.
Wir sehen „Food, Inc. – Was essen wir wirklich?“

Amerikanische Bauern und Viehzüchter berichten darüber, dass immer mehr große Konzerne die Branche dominieren, deren einziges Streben Profit ist, was zu Lasten der Arbeitsbedingungen, der Umwelt und der Gesundheit von Tier und Mensch geht.

Uns wird das Angebot im Supermarkt gezeigt: Aufgedruckte Etiketten, die bauernhofähnliche Atmosphären schaffen wollen und ethische Bedenkenlosigkeit vorgaukeln. Und wir sehen Hühner, die übereinandergestapelt in einem Raum leben, in dem sie nie das Tageslicht sehen werden. Die Hühner benötigen vom Küken bis zur Schlachtreife keine 50 Tage. Ihre Knochen kommen bei dem schnellen Wachstum nicht mit. Einige können nicht laufen. Ab und zu werden die toten Hühner aussortiert, die halbtoten werden auf einen Anhänger getreten, der sie in den Schlachthof fahren soll.

Unser 2-Jähriger Sohn schiebt sich neugierig vor den Bildschirm.
„Mama, die pieken die Hühner! Das darf man nicht! Das ist böse!“
„Ja, das ist es“, antworte ich und mein Mann hält ihm die Augen zu.

Ein Viehzüchter erzählt, dass die Industriekühe kein Gras mehr fressen, nur Mais. Das wiederum führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten. Es wird der Fall eines 2-Jährigen vorgestellt, der sich über einen verseuchten Hamburger mit einer E. coli Infektion infizierte und daran starb. Seine Mutter kämpft bis heute für eine Verbesserung der Lebensmittelstandards.

Wir sehen Kühe, die bis zu ihren Knien im eigenen Mist stehen, Antibiotika bekommen und dagegen Resistenzen entwickeln und deren Fleisch später mehrmals in Chlor gebadet werden wird, bevor es in den Handel geht. Wir sehen die Arbeiter, die zu Mindestlöhnen schuften und ihren Frust nicht selten an den Tieren auslassen.

Eine für den Film interviewte Familie berichtet:
„Wir wussten nicht, dass Hamburger ungesund sind. Und als wir es wussten, haben wir es trotzdem beibehalten. Wir arbeiten den ganzen Tag, aber haben einfach nicht genug Geld übrig, um unsere Kinder gesund zu ernähren. Cola, Chips, Süßigkeiten und Hamburger sind billiger als Gemüse. Und Zeit zum Kochen haben wir auch nicht, weil wir so viel arbeiten müssen.“

Jeder Dritte ab 2000 geborene Amerikaner wird schon früh ein Diabetes-Problem entwickeln, heißt es. Gesunde Ernährung sei längst einer bestimmten Einkommensschicht vorbehalten.

Zum Ende des Films kommt der Hinweis:
„Sie können über die Veränderungen dieses Systems abstimmen. Mit Ihrem Kassenzettel. Kaufen Sie bei Firmen, die ihre Arbeiter, die Tiere und die Umwelt respektvoll behandeln. Jeder hat das Recht auf gesunde Ernährung.“

„Jeder der antibiotikaverseuchtes Fleisch aus Massentierhaltung kauft, deren Tiere unsägliches Leid erfahren haben, muss sich von einem Teil seiner eigenen Emotionen abgespalten haben“, sagte niemand im Film, sondern ist die Meinung, die ich habe. Und ich nehme mich davon selbst nicht aus. Warum bezeichnen sich Menschen eigentlich als tierlieb, die zwar liebevolle Hunde- und Katzenbesitzer sein mögen, aber gleichzeitig die Bratwurst vom Großkonzern kaufen? Ich meine, wie funktioniert da die moralische Rechtfertigungskette? Oder denkt man über sowas lieber gar nicht nach?

Halten Menschen Fleisch womöglich für gesund? Diese veraltete Theorie ist nach meinem Wissensstand überholt und dass zumindest rotes Fleisch mit einem erhöhten Auftreten von Krebserkrankungen assoziiert ist, dürfte auch bekannt sein. Und Putenfleisch aus der Massenindustrie – kann Fleisch von einem mit ungesunder Nahrung schnell hochgezogenem Tier, welches ein leidvolles Leben hatte, wirklich gesund sein für denjenigen, der es isst?

Überhaupt, wie gesund ist eigentlich noch die Tomate, die Mithilfe chemischer Mittel irgendwo hunderte Kilometer entfernt wuchs und noch unreif geerntet wurde? Und wie cool sind diese langen Transportwege eigentlich für die Umwelt? Es heißt doch immer, Champignons sind gesund. Wie sieht es eigentlich aus mit den Vitaminunterschieden zwischen solchen, die auf Erde und mit Sonnenlicht wuchsen und denjenigen, die auf künstlichen Nährböden im Gewächshaus wachsen? Avocados sind zweifelsohne gesund – und führen zu Raubbau an der Natur und regelrechten „Avocado-Kriegen“ in den Herkunftsländern, weil dieses Lebensmittel in der westlichen Welt plötzlich gehypt wird und regelrechter Ausdruck eines besonderen Lifestyles geworden ist. „One apple a day keeps the doctor away“ – und wie sieht es aus mit den Unterschieden zwischen gespritzten und auf hohen Zuckergehalt gezüchteten Industrieäpfeln im Vergleich zu einem Apfel, den ich frisch im eigenen Garten vom Baum ernte? Ist Apfel gleich Apfel?

Und wenn ich aber keinen eigenen Baum habe? Und wenn ich vor lauter Arbeit nicht die Zeit habe, um frisch zu kochen? Und wenn ich nicht das Geld habe, um ständig biologisch, regional und saisonal zu kaufen? Fragen, deren Beantwortung Bauchschmerzen bereiten kann.

Der nächste Tag

Ich betrete einen Supermarkt und fühle mich gestresst wegen diesem und jenem. Ein bisschen Schokolade wäre cool. Hier, diese lila Packung sieht ein bisschen aus wie heile Welt und man kann sich doch nicht immer ethisch einwandfrei verhalten? Ach was, darüber denke ich jetzt gar nicht nach. Es sieht ansprechend aus, es ist lecker und ja, auch ungesund, aber auch darüber möchte ich gerade nicht nachdenken; darüber dass ich Waren von einem Großkonzern kaufe, dem u.a. Kinderarbeit vorgeworfen wird. Sowas würde ich doch nie aktiv unterstützen! Ich will doch einfach nur diese lila Schokolade essen und mich wohlfühlen. Es ist doch ok, denn es macht doch jeder. Es ist lecker. Es ist bequem. Es ist einfach. Und ich mache mit dem Einkauf der Schokolade ja nichts unmittelbar Falsches – es ist doch nicht so, dass ich persönlich einem Kind die Schaufel in die Hand drücken würde. Das machen die Großkonzerne. Die sind doch die einzig Schuldigen, nicht wahr? Und überhaupt, wer immer nur die Moralkeule schwingt, ist ja auch irgendwie ein Spielverderber! Überall hier in den Einkaufswagen liegt Ähnliches. So viele Menschen können doch nicht irren. Oder doch? Oder etwa doch?

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