So machen Berliner Künstler Corona-Spaziergänge zur Kulturbühne

Solange der Lockdown anhält, bleiben Live-Veranstaltungen verboten. Gestreamte Shows sind zwar eine Ausweichmöglichkeit – aber das Publikum ist nach fast einem Jahr Zoom-Konferenzen bildschirmmüde, und die Bezahlfreudigkeit ist online auch zurückhaltend. Die einzig sinnvolle Tätigkeit, die draußen stattfinden kann, ist das Spazierengehen, das zur Zeit eine ungeahnte Renaissance erlebt. Wie lässt sich das mit Kulturveranstaltungen verbinden, fragte sich das Berliner Veranstalterkollektiv Kiezpoeten und entwickelte ein neues Format:

Nachdem sie letzten Sommer bereits erfolgreich die Reihe Slam To Go etabliert hatten, eine kleine Stadtführung mit bis zu 100 Gästen, die an Zwischenstationen mit Poetry Slam-Beiträgen unterhalten wurden, wurde das Konzept komplett auf digital umgestellt. Kurz vor Weihnachten produzierten sie die erste Poetry Slam AudioTour. Ein Spaziergang durch die alte Friedrichstadt bis zum Monbijoupark, als Download erhältlich. „Ich bin die Route abgelaufen, habe Fotos gemacht und dann habe ich angefangen zu recherchieren“, erzählt Kiezpoet Samson, der die Moderation geschrieben und eingesprochen hat, „dabei habe ich viel über die Geschichte Berlins gelernt“. Die Idee für die Route und die Textauswahl stammen von Nune Arazyan, die mitten in der Pandemie als Mitarbeiterin zum Kollektiv stieß: Schließlich fordert die ständige Umstellung auf neue Bedingungen eher mehr Arbeitskraft als weniger.

Während der einstündigen Tour gibt Samson dieses Wissen weiter, ergänzt durch sechs Poetry Slam-Texten, die zur jeweiligen Station passen. Mitte Januar folgte die zweite Tour, diesmal für Familien. Kindgerechte Slam-Texte (und auch ein paar für die Eltern, während die Kinder spielen) zieren ein von Kiezpoet und Kinderbuchautor Jesko Habert erzähltes Abenteuer auf dem Tempelhofer Feld. Dabei dürfen die Kinder auch umhertollen und die Gegend entdecken. “Die Geschichte des Tempelhofer Felds bietet sich besonders an für eine solche Tour”, so Jesko Habert, “und ließ sich auch gut kinderfreundlich beschreiben”.

Seit dem 10.02. ist die Comedy Slam AudioTour verfügbar. Ortwin Bader-Iskraut und Samson haben sich dabei nicht mit Recherche aufgehalten sondern kurzerhand ihre eigene Geschichte Berlins erfunden. Das Produkt entspricht zwar nicht der Wahrheit, ist dafür aber wesentlich unterhaltsamer, als Infotafeln und Geschichtsunterricht. Wussten Sie, dass direkt über der Straße „Unter den Linden“ mal eine zweite Straße „Über den Linden“ geplant war, die aber direkt nach Eröffnung einfach herunterfiel? Oder dass die Goldelse an ein gewonnenes Pokerspiel zwischen Elisabeth und ihrem zweijährigen Sohn Manfred erinnert? Oder dass neben dem Fernsehturm der zehnmal höhere Radioturm steht, den man allerdings nicht sieht, sondern nur hört? Begleitet werden die beiden Komiker und Moderatoren von fünf der witzigsten Poetry Slammer*innen des deutschsprachigen Raums.

Zwei unschätzbare Vorteile bilden die digitalen Touren gegenüber Live-Events: die Kiezpoeten konnten Künstler:innen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum einladen, ohne auf Entfernungen Rücksicht zu nehmen. Und: die Beiträge sind – einmal gekauft – beliebig oft abrufbar. Der Lieblingstext lässt sich also auf dem heimischen Sofa genauso gut anhören, wie beim Spazierengehen, die Kinder können sich das Abenteuer Zuhause einfach nochmal anhören.

Das Konzept blieb nicht lange unentdeckt. Das Kulturhaus Spandau, mit dem die Kiezpoeten bereits seit mehreren Jahren zusammenarbeiten (unter anderem für den Best of Poetry Slam Spandau, der jeden Sommer Open Air in der Freilichtbühne an der Zitadelle stattfindet) hat die Comedy Slam AudioTour Spandau in Auftrag gegeben, die humoristisch durch die Altstadt führt. In Kooperation mit der Deutschen Umweltstiftung entsteht gerade die Stadtpark AudioTour, die in jeder beliebigen Stadt zu einem Spaziergang durch den Park einlädt und die Umwelt Slam AudioTour mit Life e.V.: Hier kommen Texte zu Nachhaltigkeit zum Tragen, eine Thematik mit der die Kiezpoeten viel Erfahrung haben, u.a. bei einer Veranstaltungsreihe zu den 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (sustainable development goals) der UN. (17 Ziele Slam)

Wie geht es weiter? Obgleich unklar ist, wann wieder Live-Kultur stattfinden darf, planen die Kiezpoeten fleißig die nächste Saison. Ab April startet der beliebte Slam To Go mit zwei Shows pro Monat. Gemeinsam mit Silent Move und modernen Funkkopfhörern führen die Kiezpoeten zwischen 50 und 100 Gäste durch die Stadt, die Show wechselt sich ab zwischen Stadtführung und Slam-Show, dank der Kopfhörer ganz ohne Ruhestörung, und unter den gegebenen Abstandsregeln. Gegen Sommer kommen die größeren Open Airs mit dem Ostberlin Slam im Freiluftkino Friedrichshagen, dem Best Of Poetry Slam Spandau und weiteren Veranstaltungen. „Wir haben letzten Sommer gelernt, mit Hygienekonzepten und Abstand zu veranstalten“, sagt Ortwin Bader-Iskraut, der die meisten Kiezpoeten-Slams veranstaltet. „Aber unser Beruf kann nicht ewig wie eine verzichtbare Liebhaberei behandelt werden.“

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